Kultur der Armut

Der Begriff der „Subkultur der Armut“ (später nur noch „Kultur der Armut“) geht auf die Ethnografie „Five Families: Mexican Case Studies in the Culture of Poverty“ aus dem Jahre 1959 von Oscar Lewis zurück, einem US-amerikanischen Anthropologen.

Lewis prägte den Begriff für die Lebensweise, die er bei der Erforschung der Lebensbedingungen auf der Basis familienzentrierter Feldforschung in Ländern der so genannten Dritten Welt, konkret in mexikanischen und puertoricanischen Slums, vorfand.

Die soziologische Adaption des Begriffs fällt in die frühen 1960er Jahre des 20. Jahrhunderts, in denen das Thema Armut von gesellschaftlicher Relevanz geprägt war. Selbst die US-amerikanischen Präsidenten Kennedy und Johnson setzten die Armutsbekämpfung auf ihre politische Agenda. Michael Harringtons Buch über „Das andere Amerika“ (1962) zeigte auf, dass es in den USA im Fordismus, trotz des größten Reichtums, den die Welt je gesehen hatte, großes Elend gab: Jeder vierte Mensch lebte in Armut. Der Ruf nach Erklärung, Ursachen, Auswirkungen und Äußerungsformen von Armut wurde laut.

Kennzeichen der „Kultur der Armut“ sei, so Lewis, eine mit individueller Frustration und fehlender sozialer Organisation einhergehende gesellschaftliche Ausgrenzung, die sich im Kontext der Dauerarbeitslosigkeit entwickle und zu entsprechenden Reaktionen und Lebenseinstellungen bei den Betroffenen führe. So sei die „Kultur der Armut“ geprägt durch dauernde Geldknappheit, niedrige Qualifikation, Zuflucht im Alkohol, Neigung zur Gewalt, Fehlen von Zukunftsplanung, Misstrauen gegenüber Behörden, das Gefühl der Hilflosigkeit, Abhängigkeit, eine geringe gesellschaftliche Durchsetzungsfähigkeit sowie eine auf die eigene, unmittelbare Lebensrealität reduzierte Wahrnehmung von Gesellschaft.

Der Begriff der „Kultur der Armut“ betont die kulturellen Implikationen von Armut, umschreibt ein gemeinsames Wertesystem von als arm Definierten. Zentral für das Theorem ist die Persistenz-These. Sei die Kultur einmal entstanden, so verselbständige sie sich gegenüber ihren (materiellen) Entstehungsbedingungen und bliebe auch dann existent, wenn diese nicht mehr wirken. An die Persistenz-These ist die Behauptung der intergenerationellen Weitergabe der wesentlichen Merkmale der Subkultur durch Sozialisationsprozesse innerhalb der Familie geknüpft. (Goetze 1992, S. 90) Hintergrund dieser Annahme ist u. a. die These, dass die Armen nicht in der Lage seien, ein Bedürfnis zurückzustellen. So würden viele Arme beispielsweise nicht in ihre (Aus-)Bildung oder die ihrer Kinder investieren. Das würde dazu führen, dass auch die nächste Generation in Armut leben werde.

Die „Kultur der Armut“ stellt für Lewis eine Reaktion auf die Lebensbedingungen derjenigen, die vom materiellen Wohlstand ausgeschlossen sind, dar und sei somit keine bewusste Reaktion der Abgrenzung. Als eigentliches Problem für die Überwindung der Armut wird die „Kultur der Armut“ angesehen. Die einzige Möglichkeit, die Armut zu beenden, ist laut Lewis eine von außen kommende Intervention, z. B. die kompensatorische Erziehung, da der Armut allein mit finanzieller Unterstützung nicht beizukommen sei. Diese Erziehung wurde in den 1960er Jahren in den USA entwickelt mit dem Ziel, die schulischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien zu steigern. In der Auseinandersetzung um das Theorem ist jedoch auch die Ansicht nicht neu, die „Kultur der Armut“ im Sinne eines Anpassungsmechanismus’ als kulturelle Ressource zu betrachten (vgl. Rodman 1963).

Für gewöhnlich hätten der „Kultur der Armut“-Zuzurechnende weder das Wissen noch die Vorstellungskraft, um die Ähnlichkeiten der ihnen selbst, aber auch Menschen aus dem Rest der Welt zu schaffen machenden Probleme, welche zumeist aus ökonomischen Mangelsituationen resultierten, zu erkennen. Insofern handele es sich um eine Schicht mit Status-, aber ohne Klassenbewusstsein; klassenbewusste Arme seien der „Kultur der Armut“ nicht zuzurechnen.

Im Verlauf der anhaltenden Debatte um die Armutsursachen und die Frage nach gemeinsamen Werten der Marginalisierten wurde am Konzept der „Kultur der Armut“ kritisiert, dass auch die aus der Mehrheitsgesellschaft Ausgeschlossenen sich noch an deren Werten orientieren, jedoch im Alltag mit dem Missverhältnis zwischen diesen Werten und den eigenen Möglichkeiten zu kämpfen hätten.

In den frühen 80er Jahren wurde das Konzept der „Kultur der Armut“ vom Amerikaner Charles Murray aufgegriffen, einem in den USA einflussreichen konservativen Politikanalyst und Bestsellerautor. Nach Murray seien die Maßnahmen des Wohlfahrtsstaates und ihre EmpfängerInnen selbst dafür verantwortlich, dass sich unter den Sozialstaats-Abhängigen Faulheit, Gewaltbereitschaft, sexuelle Unmoral und Drogenmissbrauch ausbreiteten und von Generation zu Generation weiter vererbt würden. Für Murray lag der Schlüssel zur Bekämpfung der Armut im Abbau sozialstaatlicher Unterstützung. Dieser Ansatz wird jedoch weitgehend zurückgewiesen, da die soziale Ausgrenzung in solchen Überlegungen fälschlicherweise den Ausgegrenzten und nicht den Ausgrenzungsmechanismen wie der kapitalistischen Armutsproduktion sowie der (Miss-)Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugeschrieben wird.

Daneben wird Lewis oft vorgeworfen die Faktoren der Rassentrennung und Klassenteilung, aus denen soziale Isolation und sozialräumliche Ausgrenzung – Segregation - entstehe, zu wenig untersucht zu haben (vgl. Wilson 1987). Auch für seinen als ideologisch wertbaren Versuch der Anwendung seiner in - zumindest damals so kategorisierten - Ländern der Dritten Welt gewonnenen Ergebnisse auf westliche Sozialstrukturen, wie der der USA, und seinen sich hauptsächlich über Werte definierenden Kultur-Begriff ist Lewis kritisiert worden.

Daneben besteht auch die Gefahr der Stigmatisierung durch die Begriffsanwendung, da die Eigenschaftszuschreibungen als Persönlichkeitsmerkmale oder als kultureller Determinismus und nicht als Folgen von gesellschaftlich erzwungenen Auf- bzw. Abstiegsprozessen wahrgenommen werden können. Daher wurde in der soziologischen Debatte vorgeschlagen, den Begriff der „Lebenswelten der Armut“ anzuwenden, um der drohenden Stigmatisierung zumindest sprachlich zu begegnen.

Trotz aller (berechtigter) Kritik ist nicht zu leugnen, dass sich aufgrund der Mangellage – in unterschiedlichen Ausprägungen – mit Armut oft bestimmte Sichtweisen auf z. B. Gesellschaft oder Institutionen, Erklärungsansätze und Herangehensweisen an Probleme verbinden. Insofern hat sich die Debatte um das Theorem der „Kultur der Armut“ als Indikator für eine mögliche kulturelle Analyse von Klassenverhältnissen, besonders der unteren Sozialschichten, verdient gemacht. Jedoch können solch kulturorientierte Untersuchungen von Armutspopulationen nicht Grundlage sozialpolitischer Interventionen sein.

Quellen

  • Goetze, Dieter: „Culture of Poverty“ - eine Spurensuche. In: Leibfried\Voges (ed.): Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 32, 1992
  • O’Connor, Alice: Rasse, Klasse und Ausgrenzung. Das Konzept der Unterklasse in historischer Perspektive. In: Häußermann, Hartmut u. a. (Hg.), An den Rändern der Städte. Armut und Ausgrenzung, Frankfurt a. M. 2004, S. 43-70
  • Rodman, Hyman: The Lower-class value stretch. In: Social Forces 42, 1963, S. 205-215
  • Rommelspacher, Thomas: Kultur – Subkultur – Kultur der Armut? In: Breckner u. a: Armut im Reichtum, Bochum 1989, S. 93-110
  • Scharenberg, Albert: Blätter für deutsche und internationale Politik: Kampfschauplatz Armut - Der Unterschichtendiskurs in den Vereinigten Staaten, Ausgabe 02/2007, S. 183 - 192
  • Wilson, William J.: The truley Disadvantaged. The Inner City, the Underclass and Public Policy, Chicago 1987

David Zolldan
(Werkstatt "Armut in Berlin", WiSe 07/08 / SoSe 08)

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