(Neue) Unterschicht

Dem neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nach gehört den wohlhabendsten zehn Prozent der Deutschen inzwischen fast die Hälfte des gesamten Nettovermögens. Die unteren zehn Prozent besitzen nichts. Sie haben nur Schulden. (BMAS 2008) Aber schon vor dem Armutsbericht war in Deutschland eine Debatte um die Existenz einer (neuen) Unterschicht in Gang gekommen. Die Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES 2006) kommt zu dem Ergebnis, dass 8 % der Deutschen zum sogenannten „abgehängten Prekariat“ zählen. In den Medien und auch in der Politik wurde der Begriff des „abgehängten Prekariats“ mit dem Begriff der „neuen Unterschicht“ gleichgesetzt und eine Debatte um die Existenz dieser „neuen Unterschicht“ in Gang getreten.

In der Soziologie entwickelte vornehmlich Theodor Geiger 1932 einen Schichtbegriff, nach welchem die Gesellschaft in soziale Schichten und Gruppen eingeteilt wurde. Diese wurden nach Merkmalen wie Beruf, Bildung, Erziehung, Lebensstandard, Macht, Art der Kleidung, Religion, politische Meinung und Organisation definiert. In diesem Zusammenhang wurden mit dem Begriff der Unterschicht Kleinbauern, Knechte, ArbeiterInnen, einfache Angestellte u. a. zusammengefasst. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht war meist abhängig von der Geburt (soziale Vererbung). Ein sozialer Auf- bzw. Abstiegstieg war allerdings nicht ausgeschlossen. (Geiger 1955)

Im Hinblick auf die aktuelle Diskussion um Kinderarmut in Deutschland und die Chancengleichheit von Kindern wird deutlich, dass die soziale Vererbung noch heute existiert. Ein sozialer Aufstieg ist theoretisch möglich, praktisch vollzieht er sich jedoch nur in den seltensten Fällen.

Anders als das frühere Proletariat ist das „abgehängte Prekariat“ in sich fast so verschieden wie der Rest der Gesellschaft. Zu ihm zählen gescheiterte AnwältInnen oder ArchitektInnen ebenso wie Angestellte im sogenannten Niedriglohnsektor und Langzeitarbeitslose. Das „abgehängte Prekariat“ ist geprägt von sozialem Ausschluss und Abstiegserfahrungen. Es weist den höchsten Anteil an Arbeitslosen auf und ist zugleich ein stark ostdeutsch (25 % im Osten und nur 4 % der Bevölkerung im Westen Deutschlands) und männlich dominierter Typ, dessen Lebenslage (beruflich, finanziell, gesellschaftlich) als unsicher und nicht befriedigend wahrgenommen wird. (FES 2006)

Die FES weist in ihrer o. g. Studie darauf hin, den Begriff der Unterschicht nicht zu verwenden und auch nicht an ihn zu denken. Sie spricht von einer „Drei-Drittel-Gesellschaft“, zu deren unterem Drittel u. a. das „abgehängte Prekariat“ gehört. In der Studie wird jedoch der gesellschaftliche Status, die Herkunft der zum „abgehängten Prekariat“ gehörenden Menschen folgendermaßen angegeben: „niedrig (49 % Unter- bzw. untere Mittelschicht)“. Spätestens hier benutzt die Studie den Begriff der Unterschicht, ohne ihn jedoch vorher näher definiert zu haben. Das bedeutet: „Abgehängtes Prekariat“ und Unterschicht überschneiden sich und bilden im öffentlichen Diskurs die „neue Unterschicht“.

Politiker versuchen eine Einteilung in Schichten zu vermeiden und handhaben eher den Begriff des Prekariats oder sprechen von sozial schwachen oder sozial benachteiligten Personengruppen. Dies weist zwar auf akute Probleme und Missstände innerhalb der Gesellschaft hin, besitzt jedoch nicht den (ab)wertenden Charakter des Schichtbegriffes.

Betrachtet man die Personengruppe um das abgehängte Prekariat, z. B. auch mit Hilfe der FES-Studie, so wird sehr deutlich, dass größtenteils der herkömmliche Schichtbegriff (und der daraus resultierende Begriff der „neuen Unterschicht“) gerechtfertigt ist. So ist soziale Vererbung, wie schon erwähnt, noch immer aktuell und Chancengleichheit für Kinder aus sozial schwachen Familien nicht gegeben. Kinder werden in Armut geboren und haben oftmals keine andere Perspektive als Hartz IV. Die schichttypischen Merkmale wie Beruf, Art der Kleidung, Lebensstandard, Erziehung und Bildung sind in den meisten Fällen sehr ähnlich. Auch die politische und partizipatorische Selbsteinschätzung der Personengruppe tragen dazu bei, mehr und mehr von einer „neuen Unterschicht“ zu sprechen.

Quellen

  • BMAS: Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2008): Lebenslagen in Deutschland - Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin
  • FES: Friedrich-Ebert-Stiftung (2006): Gesellschaft im Reformprozess. Bonn
  • Geiger, Theodor (1955): Theorie der sozialen Schichtung. In: ders. (1962): Arbeiten zur Soziologie. Methode, Moderne Großgesellschaft, Rechtssoziologie, Ideologiekritik. Berlin, S. 186-205
  • Geißler, Rainer (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. Wiesbaden

Samuel Schreiber
(Werkstatt "Armut in Berlin", WiSe 07/08 / SoSe 08)

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