Verwirklichungschancen

Der Ansatz der Verwirklichungschancen wurde von dem Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen entwickelt und stellt eine neue konzeptionelle Grundlage der  Armuts- und Reichtumsberichterstattung dar.

Verwirklichungschancen (capabilities)

einerseits: ‚capacities‘: Rahmenbedingungen/Ressourcen

andererseits: ‚abilities‘: Fähigkeiten/Kompetenzen

Sen definiert Verwirklichungschancen als:

„die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten („Capabilities“) von Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden konnten, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“ (Sen 2000, S. 29).

Er versteht unter Verwirklichungschancen also die umfassenden Fähigkeiten und Freiheiten ein Leben nach eigenen Lebensplänen zu führen. Also zum Beispiel frei von vermeidbaren Krankheiten zu sein, soziale Kontakte zu pflegen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen oder sich ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen. (Vgl. Sen 2000) Demnach lässt sich Armut als ein Mangel an Verwirklichungschancen, Reichtum dagegen als ein hohes Maß an Verwirklichungschancen interpretieren.

Sen unterteilt die Verwirklichungschancen in zwei verschiedene Bestimmungsfaktoren:

individuelle Potenziale

gesellschaftlich bedingte Chancen

Als Synonym für „gesellschaftlich bedingte Chancen“ verwendet Sen auch den Begriff „instrumentelle Freiheiten“. Er definiert einerseits substanzielle Freiheit als Wahlfreiheit, die auch dann wertvoll ist, wenn sie nicht in Anspruch genommen wird: etwa die Freiheit der Religionsausübung, die auch ein Atheist schätzen kann. Andererseits sind „instrumentelle Freiheiten“ gesellschaftlich bedingte Chancen, die als Instrumente zur Verbesserung des individuellen Wohlergehens, etwa durch Nutzung von Bildungschancen, eingesetzt werden können. (Vgl. Sen 2000, S. 50-52)

Individuelle Potenziale

  • finanzielle Potenziale: z. B. Einkommen, Vermögen, Güterausstattung
  • nichtfinanzielle Potenziale: z. B. Bildungsstand, Gesundheit, Behinderungen, Alter, Geschlecht

Solche individuellen Potenziale zeichnen sich dadurch aus, dass sie grundsätzlich in jede Gesellschaft mitgenommen werden können (oder müssen).

Gesellschaftlich bedingten Chance
(oder synonym „instrumentelle Freiheiten“)

  • Politische Freiheiten („Political Freedoms“) und gesellschaftliche Partizipation: bürgerliche Rechte, Mitentscheidung über die Auswahl, Kontrolle und Kritik der Regierenden, Möglichkeit zur freien politischen Meinungsäußerung, Informationen über eine unzensierte Presse sowie politische Partizipation.
  • Ökonomische Institutionen bzw. ökonomische Chancen („Economic Facilities“): Chance eigene Mittel für den Konsum, die Produktion oder den Tausch zu verwenden, die Fähigkeit mit Hilfe der eigenen Arbeitskraft am Produktionsprozess teilzunehmen und sich mit eigenem Kapital selbständig zu machen.
  • Soziale Chancen („Social Opportunities“): Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen und angemessenem Wohnraum.
  • Sozialer Schutz („Protective Security“): Einrichtungen der Arbeitslosenunterstützung, der Sozialhilfe, öffentliche Beschäftigungsprogramme, Schutz vor Kriminalität und gewaltsamen Übergriffen.
  • Ökologischer Schutz („Ecological Security“): Gesamtheit von Institutionen und Maßnahmen zur Gewährleistung ökologischer Funktionen
  • Transparenzgarantien: gegen Missbrauch von Sozialleistungen ebenso wie Steuerhinterziehung und Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherung.

Quelle: Machbarkeitsstudie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung, Mai 2005

Inwieweit die Verwirklichungschancen im Bereich der individuellen Potenziale durch eine Gesellschaft vermindert, behoben oder verbessert werden und ob ein hohes Maß an Verwirklichungschancen erreicht werden kann, hängt von den „gesellschaftlich bedingten Chancen“ ab. Demnach bestehen zwischen „individuellen Potenzialen“ und „gesellschaftlich bedingten Chancen“ enge Wechselwirkungen. Sen formulierte die These: „Die alleinige Betrachtung der finanziellen Armut greift zu kurz, wenn man die Verwirklichungschancen der Menschen umfassender verstehen will.“ (zit. n. IAW 2006, S. 13)

Die tatsächlichen Lebensbedingungen („Doings and Beings“) nennt Sen (2000/1981) „Functionings“. Die Kombination der Functionings einer Person spiegelt ihre faktischen Lebensbedingungen, also die verwirklichten Chancen wider.

Quelle: IAW 2006

Institutionen oder Personen die auf das Konzept der Verwirklichungschancen verweisen

Die Bundesregierung hat auf Grundlage einer Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung das Konzept der Verwirklichungschancen von Amartya Sen in ihrem Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht im März 2005 aufgegriffen (BMAS 2005). Weiter stellt die Capability-Konzeption die Grundlage für die Human Development Reports der Vereinten Nationen sowie deren Human Poverty Indizes (I für arme und II für reiche Länder) dar. Zudem orientieren sich inzwischen auch die Weltbank und die OECD verstärkt an Sens Ansatz. Ferner hat A. B. Atkinson eine Orientierung an Sen bei einer/ seiner Weiterentwicklung der europäischen Armutsberichterstattung betont. Sir Anthony Barnes Atkinson (geboren am 4. September 1944) ist ein britischer Ökonom und Herausgeber von zahlreichen Büchern. Seine Schlussfolgerungen auf dem Gebiet der Verteilungsproblematik haben ihn als Vorreiter der Fachrichtung „Neue Finanzwissenschaft“ in Erscheinung treten lassen. Er wurde durch weitere Arbeiten im Bereich der „Maße der Ungleichheit“ bekannt (Atkinson-Maß).

Quellen

  • BMAS: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hg) (2005): Lebenslagen in Deutschland. Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin
  • IAW: Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (2006): Das Konzept der Verwirklichungschancen (A. Sen). http://www.iaw.edu/pdf/iaw_machbarkeitsstudie_2006.pdf (28.02.09)
  • Sen, Amartya (2000): Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. München, Wien: Carl Hansa Verlag
  • Volkert, Jürgen (Hrsg.) (2005): Armut und Reichtum an Verwirklichungschancen. Amartya Sens Capability-Konzept als Grundlage der Armuts- und Reichtumsberichterstattung.  Wiesbaden: VS Verlag

Stefanie Hackl
(Werkstatt "Armut in Berlin", WiSe 07/08 / SoSe 08)

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