An drei Tagen im Görlitzer Park

Der Görlitzer Park in Kreuzberg befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Görlitzer Bahnhofs. Eine Lagerhalle dort besitzt ein Schleppdach, das heißt ein Dach, das ca. 3 Meter überhängt. Dadurch bietet es Schutz vor Regen. Wir waren im Frühsommer 2003 mehrmals dort, jeweils am Nachmittag, und haben folgende Beobachtungen machen können:

Die Lagerhalle im Görlitzer Park
Die Lagerhalle im Görlitzer Park

1. Tag der Beobachtung

Die Sonne scheint und es ist heiß. Eine Gruppe von 12 Menschen, davon 2 Frauen, sitzt unter dem Dach. Es gibt dort 3 Stufen, die zu einer ca. 1,5 Meter breiten Plattform führen. Die Menschen sitzen verteilt auf den 3 Stufen. Alle trinken Dosenbier der Marke Pilsator. Einige unterhalten sich, andere gucken teilnahmslos in die Sonne. Das überwiegende Alter liegt nach unseren Schätzungen zwischen 30 und 45 Jahren.
Vor ihnen steht eine große Gitterbox, fast randvoll mit leeren Pilsator-Bierdosen. Ein Mann auf einem Fahrrad nähert sich der Gruppe. Er lässt das Fahrrad in die Wiese fallen und begrüßt alle mit Handschlag, außer 2 Männer. Er setzt sich. Ihm wird ein Bier angeboten. Es kommt zu Gelächter. Einige prosten sich zu. Nach einer Weile erhebt sich ein Mann und sammelt Geld ein. Er verlässt die Gruppe. Ein anderer Mann versucht aufzustehen. Es gelingt ihm mühsam. Er geht schwankend auf einen ca. 15 Meter entfernten Baum zu und uriniert. Niemand beachtet ihn dabei. Das muss ein Vermögen an Dosenpfand sein oder bezahlen die kein Pfand?
Ein Anderer versucht seine leere Bierdose aus 4 Meter Entfernung in die Gitterbox zu werfen. Er verfehlt sein Ziel und erhebt sich ärgerlich, um die Dose in den Abfalleimer zu werfen. Diesmal mit Erfolg. Der Mann, der das Geld eingesammelt hat, kehrt mit einer Plastiktüte zurück und verteilt Bierdosen. Die geben sich anscheinend richtig Mühe, ihren Treffpunkt sauber zu halten.
Ein Mann fängt zu schreien an und macht gestikulierende Armbewegungen. Es hat den Anschein, als sei es ein Streit, wer Anspruch auf Bier hat und wer nicht.

2. Tag der Beobachtung

Der Himmel ist bewölkt und der alte Bahnhof ist wie leergefegt. Eine einleuchtende Erklärung finden wir dafür nicht.

3. Tag der Beobachtung

An diesem Tag ist die Gruppe wesentlich kleiner. Es sitzen 4 Männer unter dem Vordach und trinken Bier. Ein Hund liegt zu ihren Füßen.
Ein Mann mit einem Fahrradanhänger fährt auf die Gruppe zu und versucht ihnen was zu trinken zu verkaufen. Ohne Erfolg. Wir hatten einen Kiosk in der Wiener Straße entdeckt der Pilsator-Bier anbietet. Er wirbt mit Mengenrabatt. 1 Dose 50 Cent. 10 Dosen 4,50 Euro. 20 Dosen 8,50 Euro. Für Stammkunden vermutlich alles ohne Pfand. Wir vermuten, dass dies die Quelle ist.
Ein Mann ist mit einer Lederhose und Lederweste bekleidet. Der zweite mit einer Jeans und einem Sweat-Shirt. Der dritte trägt eine dunkle Hose und eine speckige Lederjacke. Sein Gesicht ist sehr rot. Der vierte trägt eine blaue Jeans und ein ärmelloses T-Shirt. Seine beiden Oberarme sind tätowiert. Die 4 Männer reden nicht besonders viel miteinander. Drei von ihnen rauchen selbstgedrehte Zigaretten. Wir empfanden die Bekleidung nicht besonders auffällig oder dreckig.

Auffällig war, dass an beiden Tagen, an denen es etwas zu beobachten gab, sehr wenig miteinander gesprochen wurde und sich der Aktionismus der Gruppe in Grenzen hielt. Die meiste Zeit wurde getrunken, geraucht und geschwiegen. An beiden Tagen waren insgesamt nur zwei Frauen anwesend. Fragen, die sich daraus ergeben, sind zum Beispiel: Haben wir wirklich Armut beobachtet? Wird in solchen Gruppen weniger als in anderen miteinander kommuniziert? Gibt es weniger Frauen, die von Armut betroffen sind oder zeigen sie sich nur nicht so häufig in der Öffentlichkeit? Sie können anhand dieser einen Beobachtung natürlich nicht beantwortet werden.

Oliver Baumgartl
Jürgen Achatzi
(Werkstatt "Armutszeugnisse", SoSe 03, WiSe 03/04)

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