Wagendorf Lohmühle

Am Landwehrkanal zwischen Kreuzberg und Treptow entstand 1991 ein Wagendorf. Beginnend mit der Ansammlung von nur wenigen Bauwagen und Bussen siedelten sich im Laufe der Zeit zunehmend mehr BewohnerInnen an.

Einer der kunterbunten Wohnwagen des Wagendorfs, der einem kleinen Häuschen ähnelt.
Einer der kunterbunten Wohnwagen des Wagendorfs, der einem kleinen Häuschen ähnelt.

Mittlerweile leben hier 22 Leute mit den unterschiedlichsten Berufen, wie zum Beispiel KünstlerInnen, DesignerInnen, eine Tierarzthelferin, eine Schuhmacherin, 2 DJs und andere LebenskünstlerInnen. Es stellt sich das Bild eines bunten, künstlerisch gestalteten kleinen Dorfes inmitten der Großstadt dar.

Schlendert man über das Gelände, kann man unter anderem kleine und große Kunstwerke, eine gemütliche Sitzecke, einen kleinen Kinderspielplatz und viele kreativ gestaltete Wohnwagen entdecken, umgeben von verschiedensten Pflanzen. Trotz des idyllischen Eindrucks könnten Außenstehende vermuten, dass das Wohnen in einem Wagen mit großen materiellen Entbehrungen verbunden ist und sich weder fließendes Wasser, WC, Heizung, noch Kochgelegenheit und schon gar keine Luxusgüter finden lassen.

Betrachtet man die BewohnerInnen des Wagendorfes jedoch näher, scheint niemand besonders unzufrieden mit seinem Alltag zu sein. Neben regelmäßig anfallenden Reparaturen an den Wagen, zahlreichen künstlerischen Aktivitäten, intensiver Gartenpflege und sonstigen An- und Umbauarbeiten werden pro Woche mindestens 2 Veranstaltungen organisiert. Jeden Sonntagnachmittag bietet das Musikcafé verschiedenste Musikrichtungen an. Von Techno bis Reggae ist alles dabei. Auch für die Kleinsten wird beim Kinderfest was geboten. Im Sommer ist vor allem bei dem hauseigenen Open-Air-Kino die Resonanz sehr groß. Da kann die Besucherzahl schon mal auf 200 ansteigen. Die Vielzahl der gemeinschaftlichen Aktivitäten lassen den Eindruck eines lebendigen, freundschaftlichen Miteinanders der BewohnerInnen entstehen. Seit kurzem gibt es auch eine eigene Galerie-Werkstatt, in der jeder seine Kreativität entfalten kann. Die kleine Bühne des Dorfes ist bei Bands und DJs sehr gefragt. So unterschiedlich wie die Angebote der WagendörflerInnen, so verschieden ist auch ihr Publikum. Neben Kunst und Kultur ist auch die Ökologie Thema der Wagenburg. So wird zum Beispiel Strom, soweit es die finanzielle Lage ermöglicht, aus Solarzellen bezogen, Regenwasser in Tonnen gesammelt und sogar eine Grauwasserkläranlage für Pflanzen wurde konstruiert um den Wasserverbrauch zu senken. Eine ökologisch engagierte Bewohnerin bringt den Rest der Leute in Sachen Umweltschutz immer auf den neuesten Stand. So dürfen Reparaturen an fahrtüchtigen Bussen nicht auf dem Gelände durchgeführt werden, um die Erde nicht mit eventuell auslaufendem Öl zu verseuchen. Batterien für den alltäglichen Gebrauch werden weggebracht und wieder aufgeladen. Darüber hinaus wird der Gebrauch elektrischer Geräte niedrig gehalten um den Stromverbrauch insgesamt zu reduzieren.

Hier begruben die BewohnerInnen symbolisch in Form eines Kreuzes den Frieden.
Hier begruben die BewohnerInnen symbolisch in Form eines Kreuzes den Frieden.

Der Eintritt zu fast allen Veranstaltungen ist übrigens kostenlos. Aufgrund intensiver Öffentlichkeitsarbeit ermöglicht die Wagenburg jedem Interessierten einen Einblick in das Leben der BewohnerInnen. Als vor einigen Jahren der Platz geräumt werden sollte, weil ein Uferweg am Landwehrkanal gebaut wurde, schrieben ca. 2.000 AnwohnerInnen Briefe ans Bezirksamt. Vor allem im Sommer kommen viele neugierige BesucherInnen um einen Blick auf das bunte Dorf zu werfen. Auch die Polizei versteht sich gut mit den BewohnerInnen und kommt nur in den seltensten Fällen vorbei, z. B. wenn es doch mal zu laut wird. Trotz genereller Akzeptanz fallen hin und wieder abfällige Bemerkungen, die den allgemeinen Klischees entsprechen. "Sollen sie doch lieber mal arbeiten gehen anstatt den ganzen Tag nur rumzulungern, dann könnten sie sich auch eine vernünftige Wohnung leisten und würden dem Staat nicht länger auf der Tasche liegen."

In rechtlicher Hinsicht ist das Dorf nur wenig geschützt. Zum einen wird es durch das völlig veraltete "Antizigeunergesetz" bedroht und zum anderen ist ein Wagen als Wohnort im Gesetz nicht erfasst. So wird ein Wohnwagen rechtlich einem Haus gleichgestellt, weil er auf 4 Füßen steht, erfüllt aber nicht die vorgeschriebenen Bestimmungen eines Hauses, wie zum Beispiel das Vorhandensein eines Wasserzuflusses. Das hat zur Folge, dass die Klage nur eines Bewohners ausreicht, um eine Räumung des Platzes zu veranlassen. Dieses Gesetz soll aber überarbeitet und auf das Leben in einem Wohnwagen zugeschnitten werden.

Interview

Um zu erfahren, ob sich der Eindruck der objektiven Armut bestätigt und dies von den BewohnerInnen subjektiv auch so empfunden wird, unterhielten wir uns mit zwei BewohnerInnen über ihren Alltag.

Unsere GesprächspartnerInnen waren Stefanie und Guido.

Susi: Wie kamst du auf die Idee auf eine Wagenburg zu ziehen, gab es einen bestimmten Grund?

Stefanie: Ich lebe seit fünf Jahren hier und bin damals durch meinen Freund hergekommen. Vorher habe ich in einem Haus in Britz gewohnt, da haben mich aber die Leute angekotzt. Außerdem wollte ich gerne draußen, in der freien Natur leben. Mir ist es wichtig, den Himmel zu sehen und mit mehreren Leuten zusammen zu leben. Dennoch habe ich über ein Jahr gebraucht, um ganz hierher zu ziehen - ich konnte mich nur schwer von meiner Badewanne trennen. Außerdem habe ich keine Lust jemand vollkommen fremden die Hälfte meines Gehaltes in den Arsch zu schieben, damit der 3 Wochen in Urlaub fahren kann.

Susi: Und warum hast du dich gerade für diese Wagenburg entschieden?

Stefanie: Naja, erstmal war mein Freund ja schon hier und darüber hinaus gibt es ein großes Kommunikationsforum und es finden viele Aktion statt. Umweltschutz, Musik und Kunst stehen im Mittelpunkt dieser Wagenburg. Und ich wollte aktiv was machen und nicht den ganzen Tag rumlungern. Durch die Aktionen erhalten viele Leute einen Einblick in unser Leben, und das ist wichtig um von der Öffentlichkeit mehr akzeptiert zu werden. Ich verstehe unsere Aktionen als Bildungsauftrag, anderen Mut zu machen, auch eine alternative Lebensform zu wählen.

Jana : Was leben denn sonst noch für Leute hier?

Stefanie : Das ist ganz unterschiedlich, genau so querbeet wie in einem Mietshaus auch. Vom Alter sind alle so zwischen 30 und 45 Jahren und haben die unterschiedlichsten Berufe.

Sebastian: Was machst du beruflich?

Stefanie: Ich schreibe gerade an einem Buch über das Leben auf der Wagenburg. Darin werden auch viele der häufig von Besuchern gestellten Fragen beantwortet. Außerdem koordiniere ich Einiges für den Platz und arbeite an der Erstellung einer Internetseite über die Wagenburg mit. Früher habe ich mal in einer Werbeagentur gearbeitet, aber da waren die Leute teilweise echt ätzend.

Sebastian: Wie versteht ihr euch untereinander?

Stefanie: Insgesamt kommen wir sehr gut miteinander aus. Ist im Prinzip wie ne große WG. So gibt es Leute, mit denen man sich richtig gut versteht und auch sehr eng befreundet ist, und andere mit denen man sich arrangiert und sich die Kommunikation eher auf anliegende Aufgaben beschränkt. Man muss auch einigermaßen gut miteinander auskommen, sonst funktioniert das hier nicht. Jeder muss sich an der Arbeit im Dorf beteiligen. Deshalb kann man Spannungen nicht einfach totschweigen und muss sie offen ansprechen.

Susi : Gibt's eigentlich Kinder auf der Wagenburg?

Stefanie : Ja, eins, mein 7-jähriger Sohn Mario.

Susi : Und wie lebt es sich hier so mit einem kleinen Kind?

Stefanie : Schon umständlicher, weil man mehr auf Standards achten muss. Sein Vater lebt auch sehr geordnet, Kühlschrank ist immer voll. Ich achte sehr darauf, dass er sauber zu Schule kommt. Wahrscheinlich ist er gepflegter als seine Klassenkameraden. Er hat gerade seinen eigenen Wagen bekommen, in dem haben wir Elektrik verlegt, damit er Licht hat und ne Gasheizung ist auch drin. Vorher gehörte der Anhänger einem älteren Ehepaar, die ihn auch im Winter nutzten, dadurch ist er sehr gut isoliert. Ein Kind in seinem Alter braucht einfach seine Privatsphäre.

Susi : Hat Mario Probleme mit seinem Umfeld aufgrund seiner Wohnform?

Stefanie : Nee, ganz im Gegenteil. Er war schon in der Kita sehr begehrt und hat ständig Besuch mit angeschleppt. Nur im Winter kam dann keiner mehr vorbei. Außerdem lernt er ganz andere Sachen, weil er in der Natur aufwächst und nicht den ganzen Tag vor der Glotze hängt. Ich achte sehr darauf, dass er nicht negativ auffällt, damit er nicht diskriminiert wird.

Jana: Gibt es Dinge, die dir hier nicht gefallen oder die du vermisst?

Stefanie: Ich vermisse manchmal meine Badewanne und hätte auch gerne einen Laptop und später mal ein eigenes Haus im Grünen, aber trotzdem in der Stadt. Einen Handwerker könnte man gelegentlich auch gebrauchen. Holzhacken macht mir viel Spaß, aber Holz sägen finde ich schrecklich.

Jana : Kannst du dir vorstellen woanders zu leben?

Stefanie : Nein, im Moment nicht. Ich genieße die Natur, meine Freiheit und Unabhängigkeit. Wenn sich die Gelegenheit bietet, würde ich gerne in meinem eigenen Haus wohnen, dann wäre ich total unabhängig.

Sebastian : Gibt es ein Gefälle von arm und reich auf der Wagenburg?

Stefanie : Ja, klar. Das sieht man ja auch. Zum Beispiel kann sich nicht jeder Solarzellen leisten. Und auch die Wagen sind ganz unterschiedlich ausgestattet. Einige verdienen weit über 1.000 Euro, andere weit unter 500.

Sebastian : Würdest du dich selbst als arm bezeichnen?

Stefanie : Nein, ich fühle mich reich. Nur manchmal empfinde ich mich materiell als arm, wenn ich abends nicht überall hingehen kann, weil es zu teuer ist. Das schränkt mich schon etwas ein. Ansonsten geht es mir viel besser als vorher. Arm ist eher jemand, der nichts mit sich anzufangen weiß.

Susi : Und wie bist du hierher gelangt?

Guido : Ich lebe seit mittlerweile 7 Jahren hier und habe vorher in dem besetzten Haus in der Kreutziger Sraße gewohnt. Da hatte ich 80 Quadratmeter zur Verfügung, das war mir viel zu viel. Ich brauche nur einen geschlossenen Raum für mich alleine, deshalb habe ich versucht eine WG-Wohnform draus zu machen. Das hat aber irgendwie nie funktioniert, weil keiner Bock hatte irgendwas an und im Haus zu machen. Wir hätten es damals sogar ganz billig kaufen können. Daran hatte aber auch niemand Interesse. Deshalb habe ich n' paar Sachen verkauft, um mir zusammen mit meiner Freundin einen Bus zu kaufen. In dem lebten wir dann ca. ein Jahr lang auf der Straße. Der wurde für uns beide aber schließlich zu eng. So habe ich mir meinen jetzigen Bus gekauft.

Susi: Und bist du dann ganz zufällig hier hängen geblieben?

Guido : Nein. Ich habe mir mehrere Wagenburgen angeguckt und mich ganz bewusst für diese entschieden, weil sie mir einfach am meisten zugesagt hat.

Sebastian : Und was machst du beruflich?

Guido : Ich bin Altenpfleger in einer Sozialstation, aber auch sonst sehr aktiv.

Sebastian : Spielt sich dein Alltag vor allem auf der Wagenburg ab ?

Guido : Nein, mehr außerhalb. Ich mach' unter anderem mit bei der KVU, war schon an Hilfstransporten nach Albanien beteiligt und habe auch schon mal ein Jugendfestival im Kosovo veranstaltet. Ansonsten bin ich auf jeder Anti-Fascho Demo dabei. Natürlich engagier ich mich auch auf'm Wagendorf. Ich mache zum Beispiel jeden Sonntag das Café zum Runterkommen.

Susi : Was gefällt dir so gut am Leben in einem Wohnbus?

Guido : Ich investier in mein Leben, nicht in das eines Vermieters. Es ist eine Mischung aus Wohnung und Haus, sozusagen ein Wohnhaus, und es ist meins. Es ist preisgünstig und vor allem bin ich mobil. Ich kann losfahren wann immer ich will. Alles was ich besitze, ist innerhalb kürzester Zeit zusammen gepackt. Ich bin frei und unabhängig.

Susi : Was gefällt dir weniger gut?

Guido : Im Winter, wenn weniger als minus 15 Grad sind, friert das Wasser und auch das Gas ein, so dass ich morgens nicht heizen kann. Dann seh ich zu, dass ich wegkomme und mir erst mal irgendwo nen heißen Kaffee besorge. Allerdings ist mein Bus auch nur mit Steinwolle isoliert. Also ich kann mir schon vorstellen ne Wohnung zu haben mit Dusche und Heizung, die man einfach nur aufzudrehen braucht. Aber das kann man echt nicht aufwiegen.

Jana : Würdest du denn jetzt woanders wohnen wollen?

Guido : Nein, aber wenn ich eine geeignete Wohnform für mich finde und denke, das ist es, würde ich auch in eine gut funktionierende WG ziehen, oder wenn mir die Frau meines Lebens übern Weg läuft, mit ihr zusammen ziehen.

Sebastian : Kommst du finanziell gut hin, du sparst ja zumindest die Miete, oder?

Guido : Ja, alles was ich brauche kann ich mir auch leisten. Ich krieg 900 Euro im Monat und kann gut davon leben. Wenn ich Lebensmittel brauche, kaufe ich worauf ich Appetit habe. Miete zahle ich zwar nicht, dafür muss ich aber Steuern, Versicherung und Reparaturen für meinen Bus zahlen. Das sind dann auch ca. 200 Euro monatlich. Und außerdem arbeiten wir ja auch im Wagendorf mit und da steht man schon mal bis in die späte Nacht hinter der Theke, wenn man das als Lohn bezahlt kriegen würde, kommt da ganz schön was zusammen.

Susi : Würdest du dich als arm bezeichnen?

Guido : Ja, arm auf hohem Niveau. Also ich bin 3 Monate im Jahr im sonnigen Ausland, kann kaufen was ich will, meine Arbeit macht mir Spaß, wenn's nervt fahr ich einfach weg, also ganz und gar nicht arm. Es gibt da so einen Spruch, den find ich ganz gut: Eure Armut kotzt mich an!

Stefanie : Hey, empfindest du dich als arm?

Dritter : Nee, als reich!

Jana : Nervt euch eigentlich die ständige Präsenz von Zuschauern und Amateurreportern?

Stefanie : Nee, das gehört ja zur Öffentlichkeitsarbeit dazu. Aber manchmal sind die Leute schon ganz schön frech. Im Sommer beim Kinderfestival liefern irgendwelche Mütter ihre Kinder einfach hier ab und, die stehen dann vor meinem Wagen und betteln nach was zu essen und zu trinken. Mein Sohn muss sie dann betreuen, weil er sich auf dem Gelände auskennt.

Guido : Ja, also manche Besucher sind echt dreist und gucken wie selbstverständlich in die Fenster und starren in den Wagen. Im Sommer hab ich meine Tür immer offen, weil es sonst zu heiß ist, da kam mal ne Frau und ging einfach in meinen Wagen. Obwohl ich noch schlief, stiefelte sie in meiner Küche rum und als ich wach wurde, fragte sie mich aus. Das war echt unverschämt. Aber ansonsten gehört es halt dazu und wenn's mir zu viel wird geh ich eben weg.

Wir bedanken uns recht herzlich bei unseren InterviewpartnerInnen für das Gespräch.

Susi Karsch
Jana Vieth
Sebastian Reißig
(Werkstatt "Armutszeugnisse", SoSe 03 / WiSe 03/04)

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