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Quelle: www.armutszeugnisse.de/orte/orte_18.htm

„Auf kargem Boden lassen sich nicht edle Blumen züchten“

Kinder und Jugendliche in einer Familienobdachlosensiedlung in einem Bezirk in Berlin

Ich beziehe mich in diesem Beitrag auf persönliche Erfahrungen auf dem Gelände einer Siedlung in Berlin. Die von mir genannten Zahlen sind vom Mai 2006. Ich werde zunächst die o. g. Siedlung sowie das Gelände und die Angebote, die dort für die BewohnerInnen gemacht werden, beschreiben. Im Anschluss folgt eine Dokumentation der Situation der Kinder, die dort leben.

(K)ein Ort zum Leben?
(K)ein Ort zum Leben?

Die Beschreibung einer Familienobdachlosensiedlung

In eine Obdachlosensiedlung werden Menschen durch das Sozialamt eingewiesen, wenn sie durch Mietschulden oder in einigen Fällen durch Verhaltensauffälligkeiten ihre Wohnung verloren haben. In der hier beschriebenen Einrichtung wohnen zurzeit 30 Familien auf einem Gelände in einfachen zweigeschossigen Wohnhäusern zusammen. In diesen Familien leben insgesamt 51 Kinder und Jugendliche. Vier der Kinder sind unter drei Jahre alt, während sieben Kinder im Kindergartenalter zwischen drei und sechs Jahren alt sind. Im Grundschulalter finden wir im Familienobdach 17 Kinder. Im Teenageralter zwischen 13 und 16 Jahren leben zurzeit 15 Jugendliche auf dem Gelände. Acht Jugendliche und Heranwachsende, die noch im Elternhaus verweilen, wurden ebenfalls dort eingewiesen.

Hinter verschlossenen Türen
Hinter verschlossenen Türen

Drei der Wohneinheiten stehen leer, weil sie desinfiziert werden sollen. Obwohl die Häuser nach meiner persönlichen Einschätzung den „Charme“ von Baracken haben, sind sie wie Reihenhäuser aufgebaut und werden Nutzungsräume genannt. Aufgrund dessen wird dafür keine Miete, sondern eine sog. Nutzungsgebühr erhoben. Die Zimmer sind 16-17 qm groß und jeweils für zwei Personen vorgesehen. Im Treppenhaus steht jeder Familie - und nur Familien dürfen dort einziehen - eine Toilette zur Verfügung. Jeder Raum verfügt über einen Kohlenofen. In der Küche, die immer als ein Zimmer mitberechnet wird, befinden sich ein Elektroherd und eine Spüle mit einem Wasserhahn, aus dem ausschließlich kaltes Wasser fließt. Im Übrigen sind die Räume leer und es bleibt den BewohnerInnen überlassen, was sie dort hineinstellen. Jede Familie ist auf dem Gelände des Familienobdachs selbst dafür verantwortlich, ihre Stromversorgung sicherzustellen.

Auf dem Grundstück befinden sich zwei Räume mit insgesamt neun Sammelduschen. In zwei weiteren Räumen werden Waschmaschinen und Trockner angeboten. Die Familien müssen sich zum Duschen und um Wäsche zu waschen absprechen. Für das Einhalten solcher Vereinbarungen sorgt ein Hausmeister, dem ebenfalls auf dem Gelände, zusammen mit seiner Familie, eine besser ausgestattete Wohnung zur Verfügung gestellt wurde.

Dokumentation der Situation der Kinder auf dem Gelände

Die Kinder dieser Siedlung sind in der Schule und im privaten Umfeld gesellschaftlichen Ausgrenzungen ausgesetzt. Sie gehören zu einer Randgruppe, gegen die es viele Vorurteile gibt, was für diese Kinder mit ungleichen Startchancen verbunden ist. Je länger Kinder in der Siedlung leben, desto geringer werden ihre sozialen Kontakte nach außen. Klassenkameraden von außerhalb dürfen kaum in die Siedlung kommen, da deren Eltern mangelnde Sicherheit für ihre Kinder befürchten. Gemeinsame Außenaktivitäten zwischen Siedlungskindern und ihren eigenen Eltern sind fast ein Tabu, da die Erwachsenen in der Regel Angst- und Suchtproblematiken aufweisen, die das Entfernen vom Gelände unmöglich machen. Außerdem fehlt den Betroffenen meist das Geld dafür. Unter deren Lebensbedingungen scheint ein Ausbrechen aus dem Milieu fast unmöglich.

Das Gelände
Das Gelände

Das Selbstwertgefühl und die Kritikfähigkeit dieser Kinder sind deutlich schlechter als bei anderen Kindern, da sie Angst vor dem Versagen und dem Verlust eines Status, der paradoxerweise in der Regel ohnehin nicht vorhanden ist, haben. Es gibt keine Identifikation mit ihrer persönlichen Lebenssituation. Auf Grund dessen grenzen sich diese Kinder oft auch noch gegenseitig aus. Hierdurch besteht eine große Gefahr in die Isolation zu verfallen, da das Buhlen um die Gunst der Kinder von außerhalb durch diese eher abgelehnt wird.

Die Probleme der Kinder bestehen in Verwahrlosungen, häufig extremen Mangelversorgungen besonders auch im psychosozialen Bereich und in den unterschiedlichen Suchtstrukturen, mit denen die Eltern der Kinder leben und die für Außenstehende eine Gefährdung für das betreffende Kind vermuten lassen. Obdachlose Kinder gelten als unsauber, sind diejenigen, die immer Läuse in Umlauf bringen, die schlecht riechen, ungewaschen sind, die weder gut sprechen, schreiben oder rechnen können und um die sich insgesamt niemand kümmert. Ihre Eltern gelten als alkoholkrank, drogenabhängig oder inhaftiert. Es gibt unter den Eltern im Umfeld dieser Kinder die Vermutung von Prostitution auf dem Gelände und die generelle Meinung, dass dort mit Diebesgut und Drogen aller Art Handel betrieben wird. Meine Vermutung ist es, dass die ständig größer werdende Angst vor sozialem Abstieg, besonders durch Arbeitslosigkeit, zusätzlich ihren Beitrag liefert, Vorverurteilungen zu speisen, um Entlastung durch eine „Sündenbockfunktion“ zu finden. Deutlich wird mir jedoch in Gesprächen mit Eltern außerhalb der Siedlung, dass diese Abwehrmechanismen entwickeln und Vorurteile pflegen, um Kontakte zwischen ihren Kindern und den Obdachkindern zu vermeiden. Andererseits ist die Armut der BewohnerInnen derartig eklatant, dass Gründe für die Vermutung der o. g. Aktivitäten nahe liegen.

Startchancen sind im Vergleich schlechter

Nach einer Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) ist mit der Einführung von Hartz IV zu Beginn des Jahres 2005 die Zahl der von Armut betroffenen Kinder insgesamt auf eine Rekordsumme von 1,7 Millionen hochgeschnellt: „Hartz IV heißt zu wenig für zu viele.“ Wenn wir von obdachlosen Kindern in ihren Familien sprechen, so sind diese in besonders hohem Maße von Armut betroffen. Eine Folge ist, dass sie oft verspätet eingeschult werden und im Vorfeld keinen Kindergarten besuchen durften. Da die Überzeugung der Verantwortlichen besteht, dass die Entscheidung einer Anmeldung in einer Kindertagesstätte Sache der Eltern ist und diese auch die anfallenden Kosten zu übernehmen haben, bleibt der Besuch einer Kita für die meisten der betroffenen Kinder ein unerfüllter Wunsch. Sie sehen den Kindern von „außerhalb“ beim Spielen zu.

Café B
Café B
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