Bildungsarmut

Unter ‚bildungsarm’ versteht man die Personen, die über keinen höheren Sekundarabschluss und/oder über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. Die Betroffenen werden auch als ‚bildungsfern’ beschrieben. Die Ergebnisse der PISA–Studie im Jahr 2000 (Programme for International Student Assessment) machten auf das bereits schon länger bestehende Problem der Bildungsarmut in Deutschland aufmerksam und lösten dadurch öffentliche und politische Diskurse aus. So kritisierte beispielsweise der UN-Sondergesandte Vernor Muñoz im UN-Bildungsbericht (UN 2007) die Chancenungleichheit des deutschen Schulsystems. Durch die frühe Aufteilung von Schülern und Schülerinnen in Haupt-, Realschule und Gymnasium sei die schulische als auch berufliche Laufbahn schon vorbestimmt. Insbesondere Kinder mit einem Migrationshintergrund, einer Behinderung oder aus sozial schwachen Familien würden dadurch diskriminiert, da sie an Hauptschulen überpräsentiert und an Gymnasien unterpräsentiert seien.

Bildungsdefizite können negative Auswirkungen auf die derzeitige und zukünftige Einkommensposition sowie auf den sozialen Status der Betroffenen haben. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind – vor allem in Deutschland - bei ungenügenden Bildungszertifikaten eher gering.

Messung von Bildungsarmut

Für die Bemessung von Bildungsarmut kann folgendermaßen vorgegangen werden: Die Grundlage sind zum einen die Zertifikate (Bescheinigungen für formale Bildungsabschlüsse), zum anderen zählen die erworbenen Sozial- und Handlungskompetenzen.

Konzepte zur Messung von Bildungarmut

 

Zertifikate (25- bis 64-Jährige)

Kompetenzen (15-Jährige)

Absoluter Maßstab

Die Personen verfügen über keinen Mindestabschluss wie z. B. Abitur oder abgeschlossene Berufsausbildung.

Die Personen erreichen lediglich die erste von fünf PISA-Kompetenzstufen.

Relativer Maßstab

Die Personen verfügen über ein niedrigeres Bildungszertifikat als der ‚Durchschnittseinwohner’.

Die Kompetenzen (PISA-Tests) liegen deutlich unter dem durchschnittlichen Bildungsvermögen von Gleichaltrigen oder des ‚Durchschnitteinwohners’.

(vgl. Allendinger/ Leibfried 2003: 13ff.)

Die Volkswirtschaftslehre benutzt synonym für Bildungsarmut auch die Terminologie Humankapitalschwäche. Eine OECD-Studie (OECD 2003) prognostizierte, dass aufgrund der stagnierenden Humankapitalschwäche in Deutschland kaum noch wirtschaftliche Gewinne generiert werden könnten.

Individuelle Folgen

Die individuellen Auswirkungen von Bildungsarmut zeigen sich im sozialen und ökonomischen Bereich: Je höher die berufliche Qualifikation ist, desto geringer ist das Risiko in die Arbeitslosigkeit zu fallen oder über einen längeren Zeitpunkt davon betroffen zu sein. Demzufolge erweist sich das Finden und das Behalten einer Erwerbstätigkeit bei bildungsarmen Personen als schwer. Die Betroffenen leiden häufig unter prekären Lebensbedingungen und dem Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe, die häufig durch die Einkommensarmut hervorgerufen werden. (vgl. Becker 2003, zit. nach Anger u. a. 2006: 29).

Gesellschaftliche Folgen

Die gesellschaftlichen Auswirkungen von Bildungsarmut können aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Zum einen beeinflussen die höher ausgebildeten Arbeitnehmer und Arbeitsnehmerinnen das wirtschaftliche Wachstum positiv, und zum anderen werden die öffentlichen Haushalte weniger stark belastet, als dies bei bildungsarmen Gesellschaftsgruppen der Fall ist. Da Deutschland ein rohstoffarmes Land ist, muss es für das Mithalten von technologischer Wettbewerbsfähigkeit und Innovationsfähigkeit hoch qualifizierte Arbeitskräfte einsetzen. Im Vergleich dazu werden Arbeitsstellen für niedrigqualifizierte Personen nicht in genügender Anzahl angeboten. (vgl. Anger u. a. 2006: 30 ff.)

Ursachen

Die o. g. OECD- Studie beschreibt weiter den erheblichen Einfluss der Bildungsbiografie der Eltern auf die Bildungs- und Einkommenschancen der Kinder. In keinem anderen OECD-Land ist der Zusammenhang von sozioökonomischen Faktoren einer Familie und dem Schulerfolg der Kinder so stark ausgeprägt wie in Deutschland. Die frühe Zuweisung von Kindern in das dreigliedrige Schulsystem bedeutet das Weitervererben von Bildungsprivilegien. Private Aspekte können sein: Familieneinkommen, Bildungsstand der Eltern, vererbte Fähigkeiten. Aber auch die öffentlichen Faktoren wie Bildungssystem, Ausbildung und Erfahrung der LehrerInnen, Peers und finanzielle Unterstützung durch den Staat beeinflussen die kindliche Entwicklung. Je nach Ausprägung und der Kombination dieser Einflussfaktoren können sie positiv oder negativ die Bildung eines Kindes beeinflussen (vgl. Anger u. a. 2006: 39 ff.).

Die Ergebnisse der PISA-Studie zeigten folgende Ursachen für die Bildungsarmut in Deutschland auf:

  • Mangelnde frühkindliche Förderung
  • Mangelnde Unterstützung während der Schulzeit
  • Ungünstiges Schulumfeld
  • Integrationsprobleme beim Übergang in Berufsbildungssystem
  • Integrationsprobleme beim Übergang in die Arbeitswelt

Maßnahmen zur Reduzierung von Bildungsarmut

Den o. g. Defiziten kann durch folgende Reformvorschläge entgegengewirkt werden:

  • die frühkindliche Förderung ausbauen:
    den Bildungsauftrag in Kindertageseinrichtungen stärken und die Ausbildung von ErzieherInnen, Teilnahmequoten in Kindertageseinrichtungen erhöhen
  • Ganztagsschulen ausbauen
  • die Förderkultur in Schulen verbessern:
    die individuelle Förderung stärken, Bildungsstandards festlegen
  • die kurative Funktion der Berufsausbildung stärken:
    Ausbildungsschwelle für Unternehmen senken, Berufsschulvorbereitung praxisnäher gestalten, Ausbildungsberufe differenzieren und individualisieren
  • Zugang zum Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte verbessern:
    Stellenbesetzung verbessern, schulische Nachqualifizierung ermöglichen

(vgl. Anger u. a. 2006: 77)

Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass bildungsarme Menschen eine spezifische Förderung und ein stabiles Bildungsangebot benötigen um eine höhere Qualifizierung im schulischen und beruflichen Bereich zu erlangen. Aber auch die Unternehmen sind auf Unterstützung und Beratung angewiesen, damit sie die weniger qualifizierten Arbeitskräfte einstellen und ihren Fähigkeiten und Kompetenzen entsprechend einsetzen können. Dennoch ist anzumerken, dass wesentliche Erfolge bei der Verringerung von Bildungsarmut erst in einigen Jahren zu sehen sein werden. Zudem wird es trotz öffentlichen, politischen und privaten Bemühungen immer Personen geben, die aufgrund eingeschränkter kognitiver oder körperlicher Fähigkeiten oder ihrer psychischen Verfassung zu bildungsärmeren Gesellschaftsgruppen gehören werden. (vgl. Anger u. a. 2006: 110f.)

Quellen

Stephanie Vogt (Erasmus-Studentin)
(Seminar „Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit“, WiSe 2009/10)

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