Gender

Der Begriff „Gender“ bezeichnet im Englischen das sozial-kulturelle Geschlecht eines Menschen, während „Sex“ das biologische Geschlecht meint. Im Deutschen fehlt eine solche Trennung. Umschreibungen wie Geschlechtscharakter, -identität, -rolle oder soziales Geschlecht sind sperrig und treffen meist nur einen Teil der Bedeutung. Daher hat die Bezeichnung „Gender“ sich auch im deutschen Sprachraum durchgesetzt.

Ursprünglich ist Gender eine lexikalisch-grammatische Kategorie und bereits hier zeigt sich die Problematik „natürliches Geschlecht“ versus grammatische Genus-Klassifizierung. Abgeleitet ist der Begriff vom lateinischen „generare“ – erzeugen. Es geht also um die Erzeugung von Bedeutungen, Klassifizierungen und Beziehungen (von Braun/Stephan 2000: 9)

In Deutschland ist die Kategorie seit den 1990er Jahren gebräuchlich, während in den USA die Sex-Gender-Unterscheidung bereits in den 1970er Jahren wissenschaftsfähig geworden ist. Mit der Einführung der Sex-Gender-Relation stellt sich die Frage nach der Konstruiertheit von Geschlecht quasi von selbst. (Stephan 2000: 58). Bereits 1949 wusste Simone de Beauvoir, dass man nicht als Frau zur Welt kommt, sondern es wird (de Beauvoir 1949). Die Trennung nach Sex und Gender stammt zunächst aus der Medizin und fand in den 1960ern Anwendung in der Behandlung von Trans- und Intersexuellen. Dabei ging es um die Herstellung einer Übereinstimmung von Anatomie und dem erwarteten geschlechtstypischen Verhalten. Für feministische Theorien der 1970er Jahre war die Sex-Gender-Trennung von entscheidender Bedeutung, da sie zeigte, dass eine Ungleichheit der Geschlechter nicht biologisch begründet werden kann. Wenn der Unterschied und die Hierarchie der Geschlechter nicht mehr natürlich erklärt, sondern als sozial und kulturell „gemacht“ enttarnt wird, besteht eine Veränderbarkeit der Verhältnisse. Es wurde zunächst daran festgehalten, dass das biologische Geschlecht naturgegeben und Grundlage des sozialen Geschlechts sei (Degele 2008: 67f.). An diesem Punkt regte sich Kritik. Auch der anatomische Geschlechtsunterschied ist laut Judith Butler sozial konstruiert (Butler 1990). Geschlecht beruht nicht auf etwas Natürlichem, sondern darauf, dass Menschen sich ständig nach dem ihnen zugewiesenen Rollenbild verhalten und auch ständig so wahrgenommen werden. In einem Zirkelschluss wird ihnen daraufhin wieder ein bestimmtes Geschlecht zugewiesen (Degele 2008: 78-84).

Gender in der Praxis

In der Praxis ergibt sich daraus ein Problem, eine Art Bewusstseinsspaltung: Theorieinteressierte AkteurInnen müssen in ihrer politischen Praxis auf Kategorien zurückgreifen, die sie in der Theorie für nicht existent erklärt haben. Im Alltag gibt es Frauen und Männer sowie eine eindeutige Hierarchie und Ungleichbehandlung, die auf dem Geschlecht beruht. Dabei spielt die Konstruiertheit kaum eine Rolle.

So lassen sich bezüglich der Bildungs- und Karrierechancen Unterschiede erkennen. Die Schule stellt einen Bereich dar, in dem die an Gender gebundene soziale Ungleichheit am weitesten überwunden scheint. Es schaffen geringfügig mehr Mädchen als Jungen das Abitur oder den Realschulabschluss, während sie unter den HauptschülerInnen unterrepräsentiert sind. In den letzten Jahren lag die Zahl weiblicher und männlicher StudienanfängerInnen bei jeweils rund 50 %. Im dualen Ausbildungssystem und im Bereich der Weiterbildung sind Frauen aber deutlich benachteiligt. Insgesamt haben Frauen niedrigere Einkommen. Das hat mehrere Gründe: Ihr Arbeitsumfang ist geringer. Dabei beruhen Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigungen keineswegs immer auf Freiwilligkeit. Die auf der Trennung zwischen produktiver (hoch angesehener und bezahlter) und reproduktiver (wenig angesehener und meist unbezahlter) Arbeit beruhende Arbeitsteilung weist Frauen immer noch „typische“ Berufe (meist weniger lukrativ) zu, auch wenn sie theoretisch die Wahl hätten. Insgesamt ist zu beobachten, dass sich die Wechselwirkung zwischen hoher Qualifikation und entsprechendem Einkommen (und der Vermeidung von Armutsrisiken) bei Frauen weniger positiv auswirkt. Zudem vergrößert sich im Verlauf des Arbeitslebens der Einkommensunterschied zu Ungunsten von Frauen (Mogge-Grotjahn 2008). Dies wirkt sich auf Rente und Arbeitslosengeld aus. Dass die Armutsquote von Frauen nur etwas höher als die von Männern liegt, ist v. a. im traditionellen Familienmodell des männlichen Ernährers begründet. Inzwischen ist dieses im Zuge einer neoliberalen Veränderung von Arbeit etwas aufgeweicht. Auch immer mehr Männer sind von Prekarisierung und Sozialabbau betroffen. „Dank“ Hartz IV öffnet sich das traditionelle Familienmodell. Nun werden sämtliche Lebensgemeinschaften zu unterhaltspflichtigen Bedarfsgemeinschaften. „Institutionelle Anerkennung wird also dort gewährt, wo es sich für den Staat auszahlt“ (Degele 2008: 190).

Auch wenn Hartz IV Gender Mainstreaming einführt und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz als Antidiskriminierungsinstrument gilt, findet keine tatsächliche Gleichbehandlung statt. So wirken in der Fallbetreuung sehr wohl stereotype Geschlechterbilder fort. Wie bereits erwähnt, können sich Männer – weniger belastet von Reproduktionsarbeit – eher ihrer Karriere widmen und verdienen meist mehr. Frauen werden also weiterhin eher von ihren Ehe- oder Lebenspartnern abhängig gemacht. Hartz IV verfestigt und flexibilisiert die Geschlechterverhältnisse also gleichzeitig (Degele 2008: 188ff.).

Bei allen Fortschritten der letzten Jahrzehnte ist und bleibt Gender also eine relevante Kategorie in Bezug auf das Armutsrisiko.

Quellen

  • de Beauvoir, Simone: Le Deuxième Sexe. Paris 1949. Deutsche Erstausgabe: Dies.: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1951.
  • von Braun, Christina/ Stephan, Inge (Hrsg.): Gender-Studien. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar 2000.
  • Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990. Deutsche Erstausgabe: Dies.: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991.
  • Degele, Nina: Gender/Queer Studies. Eine Einführung. Paderborn 2008.
  • Mogge-Grotjahn, Hildegard: Geschlecht: Wege in die und aus der Armut. In: Ernst-Ulrich Huster, Jürgen Boeckh, Hildegard Mogge-Grotjahn (Hrsg.): Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung. Wiesbaden 2008. S. 350- 361.
  • Stephan, Inge: Gender, Geschlecht und Theorie. In: von Braun/Stephan 2000, S. 58 – 96.

Andrea Metzner
(Werkstatt "Armut in Berlin", WiSe 07/08 / SoSe 08)

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