Sozialstaat

Hinter dem Begriff Sozialstaat verbirgt sich keine festgelegte oder allgemeingültige Definition, da  er unterschiedliche Verwendungszusammenhänge im Spannungsfeld politischer Praxis und politikrelevanter Wissenschaften aufweist. Die Bezeichnung des Sozialstaates wird in unterschiedlichen Disziplinen vielfältig genutzt, beinhaltet jedoch je nach sozialwissenschaftlicher  Ausrichtung  unterschiedliche Bedeutungen. Im Allgemeinen ist mit Sozialstaat ein Staat gemeint, der soziale Sicherheit und Gerechtigkeit anstrebt und das Individuum innerhalb der Gesellschaft vor unsozialen sowie ungerechten Maßnahmen schützen soll. Zentrale Aufgabe ist, in die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abläufe zu intervenieren, um Teilhabechancen der Bevölkerung in den Bereichen Einkommenssicherung, Gesundheit, Wohnen und Bildung zu schaffen, anzugleichen oder zu verbessern. In der Literatur  liest man oftmals die Bezeichnung des Wohlfahrtsstaates (welfare-state), welche jedoch nicht als Synonym verstanden werden darf, da dieser in Deutschland negativ konnotiert ist und sozialpolitische Funktionen und Tätigkeiten ausschließt. Aus diesem Grund hat sich in Deutschland der Begriff des Sozialstaates durchgesetzt; dieser übernimmt damit die Verantwortung für die Verteilung gleicher Lebenschancen durch die gesetzliche Fixierung von Rechtsansprüchen auf bestimmte Leistungen in Form von Geld, sozialen Gütern oder auch Dienstleistungen (vgl. Olk, 2008, S. 883; Pilz, 2004, S. 15 f.). 

Gesetzliche Regelungen

Im Grundgesetz (GG) des Artikel 20 Abs. 1 und Artikel 28 Abs. 1 Satz 1 ist festgelegt, dass Deutschland auf allen Ebenen wie Bund, Länder und Gemeinden ein Sozialstaat ist. So heißt es im Artikel 20 Abs. 1 GG „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ und weiter im Artikel 28 Abs. 1 Satz 1 „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen“. Bezugnehmend auf den Begriff „sozial“ sieht das Gesetz keine festgeschriebene Ordnungsstruktur vor, in welcher Art und Weise sozialer Ausgleich und Gerechtigkeit zu schaffen und zu garantieren sind. Demgemäß ist der Gesetzgeber weitestgehend frei in der Gestaltung der sozialen Sicherung. Dies bedeutet, dass für einzelne Mitglieder keine individuellen Leistungs- oder Teilhabeansprüche gewährleistet sind, sondern sich aus dem Grundgesetz ein Prinzip des sozialen Handelns seitens des Staates ergibt: Das sogenannte Sozialstaatsprinzip. (Pilz, 2004, S. 17f .)

Mit dem Sozialstaatsprinzip wird das grundlegende Staatsprinzip bezeichnet, das den Staat zur sozialen Gerechtigkeit in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung verpflichtet. Unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit hat der Sozialstaat nach diesem Prinzip die Würde des Menschen (Art. 1 GG) zu schützen, die auch beinhaltet über die minimalen Existenzgrundlagen verfügen zu können, ergo muss der Staat für sozial gerechte und abgesicherte Lebensverhältnisse seiner Bürger_innen sorgen und diese sichern. Das Sozialstaatsprinzip wurde im Grundgesetz als Staatsziel verankert und unterliegt, neben der Menschenwürde und den Menschenrechten, dem Schutz der sogenannten Ewigkeitsgarantie aus Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikel 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“

Struktur- und Gestaltungsprinzipien des deutschen Sozialsystems

Um diesem Sozialstaatsprinzip gerecht zu werden, konzentriert sich Deutschland bisher auf die Typologie der Versicherungssysteme (vgl. Olk, 2008, S. 883). Dabei ist der Sozialstaat kein reiner Sozialversicherungsstaat, sondern weist eine Mischform aus Pflichtsozialversicherungen, privater Vorsorge, staatlicher Versorgung und Fürsorge auf (vgl. Pilz, 2004, S. 89).

Die Struktur-, Organisations- und Verfahrensprinzipien regeln den Aufbau beziehungsweise den Funktionsmodus des sozialen Sicherungssystems. Dabei werden die Grundsätze, nach denen ein Sozialstaat konzipiert ist, entsprechend der Strukturprinzipien geregelt. Hingegen sind die Gestaltungsprinzipien diejenigen, die bei der konkreten Ausgestaltung der Sozialpolitik angewandt werden. Die Organisationsstruktur wird wiederum in Fürsorge, Versicherung und Versorgung unterteilt. Als Fürsorge wird die Leistungsart bezeichnet, die derjenige aus Steuermitteln erhält, der die Bedürftigkeit nachweist. Die Versicherung setzt Beitragszahlungen voraus und bindet das Erbringen von Sozialleistungen an das Eintreten des Versicherungsfalles. Für Menschen, die sich für den Staat verdient gemacht haben (wie beispielsweise Kriegsopfer, Beamte etc.),  leistet der Staat aus allgemeinen Steuermitteln die Versorgung (vgl. Pilz, 2004, S. 91 f.).

Die wichtigsten Gestaltungsprinzipien des Sozialstaats sind das Solidaritätsprinzip, welches die institutionelle Existenz des Sozialstaates begründet und seine Inhalte ausmacht, sowie das Personalitätsprinzip, welches die Wirkungsrichtung des wohlfahrtsstaatlichen Handelns angibt und gleichzeitig seine Reichweite begrenzt. Aus diesem Grund werden soziale Leistungen individuell zugeteilt. Zuletzt vermittelt das Subsidiaritätsprinzip zwischen den beiden oben genannten Prinzipien, indem es die Brücke zwischen gesellschaftlicher und individueller Verantwortung schlägt. Unter anderem soll dies die Entfaltung der personalen Kräfte ermöglichen, da  das Leitmotiv des Sozialstaates die Solidarität ist (vgl. Butterwegge, 2006, S. 28-36; Pilz, 2004, S. 89 f.; Engel, 2011, S. 46 f.).

Ende des 19. Jahrhunderts übernahm der Staat erstmals die Grundverantwortung für die soziale Sicherung der Bürger_innen, indem er folgende Versicherungen einführte:

  • 1883 Krankenversicherung
  • 1884 Unfallversicherung
  • 1889 Invaliden- und Altersversicherung (die heutige Rentenversicherung)
  • 1927 Arbeitslosenversicherung
  • 1995 Pflegeversicherung

Die ersten drei genannten Versicherungen (a-c) definieren die Säulen, auf denen der Sozialstaat aufgebaut wurde und bis heute besteht. Diese Säulen wurden ergänzt durch die letzten beiden Versicherungen(d,e). Die Finanzierung dieser erfolgt durch Pflichtbeiträge, die  Arbeitgeber und Arbeitnehmer in verschiedenen Anteilen tragen. Lediglich die Unfallversicherung – wie heute - wurde vom Arbeitgeber alleine getragen. Diese Versicherungen sind zu dieser Zeit auch eingeführt worden, um die wachsende Bevölkerungsschicht der Industriearbeiter_innen von revolutionären Bestrebungen abzuhalten (vgl. Sabrow, 2007, S. 13 f.). Jedoch bestehen neben den großen Sozialversicherungswerken auch Versorgungssysteme für Kriegsopfer und Beamt_innen, sowie die Sozialhilfe, die auf dem Prinzip der Fürsorge beruhen (vgl. Olk, 2008, S. 884; Engel, 2011, S. 51 f.).

Sozialpolitik und deren Aufgaben

Fast jeder moderne Staat betreibt Sozialpolitik, deshalb ist er aber noch kein Sozialstaat. Entscheidend für diesen Titel sind Qualität, Quantität und die Reichweite der jeweiligen Sozialpolitik. Auch hier ist keine allgemein gültige Definition verfügbar, da die Ausgestaltung in der Verantwortung der gewählten Parteien liegt. Jedoch wird in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zwischen folgenden drei Formen unterschieden: Die emanzipatorische Sozialpolitik möchte unterversorgte, unterprivilegierte Gesellschaftsgruppen von Zwängen befreien, die sie daran hindern ein gutes Leben zu führen. Die kompensatorische Sozialpolitik gleicht Nachteile aus, welche durch das bestehende Wirtschaftssystem entstanden sind, ohne darüber hinaus Perspektiven zu schaffen. Das reibungslose Funktionieren des herrschenden Wirtschaftssystems möchte die kompetitorische Sozialpolitik fördern. Diese wurde immer bedeutender, vor allem bezüglich des „Standortes D“ (vgl. Butterwegge, 2006, S. 12; Engel, 2011, S. 20 f.).

Im Allgemeinen trägt Sozialpolitik zu der Modernisierung eines Staates bei, indem er die materiellen Mittel für gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuerungen stellt. Jedoch ist und bleibt Sozialpolitik immer Sisyphusarbeit, da sie ihr endgültiges Ziel, gleiche Entwicklungschancen für alle Gesellschaftsmitglieder zu schaffen, niemals erreichen wird (vgl. Butterwegge, 1999, S. 17). Sozialstaat und Sozialpolitik sind also eng miteinander verbunden, müssen aber ganz klar voneinander differenziert werden. Der Sozialstaat schafft den institutionellen Rahmen und definiert das Ziel, während die Sozialpolitik das Mittel darstellt, um dieses Ziel zu erreichen. Der Sozialpolitik geht es primär um Transferleistungen, im Sinne von sozialem Ausgleich, während der Sozialstaat die Bürger_innen vor unsozialen Maßnahmen schützen soll (vgl. Butterwegge, 1999, S. 11).

Beispiele aktueller Problematiken und Spannungsfelder

Durch den Wechsel der verschiedenen Ausrichtungen und Strategien der Sozialpolitik hat sich der heute bestehende Sozialstaat stetig entwickelt und aufgebaut. Der vielfältige und dynamische Prozess der Wandlung und Weiterentwicklung Deutschlands ist auch ein mit Widersprüchen behafteter Prozess. Hierbei werden häufig Schlagwörter verwendet wie „Sozialstaat in der Krise“ oder auch „Abbau des Sozialstaates“. Vor allem auf moralischer und theoretischer Ebene ergeben sich immer wieder Spannungsfelder in der Diskussion um Gleichheit und Freiheit der Bürger_innen, die dem Prinzip der Subsidiarität unterliegen. Wie oben schon erläutert handelt es sich hierbei um die Waage zwischen der Einbeziehung der Eigenverantwortlichkeit und Mitwirkung von Bürger_innen und der sozialen Gerechtigkeit, die durch Bund, Länder und Gemeinden gewährleistet werden muss. Da neben den Sozialleistungen, die in den Sozialgesetzbüchern (SGB I-XII) nieder geschrieben sind, jedoch auch andere Leistungsgesetze existieren (Familien-, Bildungs- oder Wohnungsbaupolitik), die außerhalb des SGB auf Bundes-, Landes-, und kommunaler Ebene geregelt sind, ergibt sich durch diese Vielschichtigkeit des deutschen Sozialstaates eine schwer oder kaum durchschaubare Landschaft an Leistungsgewährung (vgl. Engel, 2011, S. 57 ff.).

So ist unter Anderem seit 2005 eine Wandlung des Verständnisses über den Leistungsbereich des Sozialstaates zu verzeichnen. Seither werden die Ansprüche auf existenzsichernde Leistungen vom Staat an die Mitwirkungspflicht der Berechtigten gekoppelt; es wird von ihnen verlangt alle ihnen zumutbaren Maßnahmen zur Abwendung der eigenen Bedürftigkeit zu unternehmen. Dies gilt mittlerweile als Voraussetzung, um die existenzsichernden Leistungen zu erhalten und soll die bedürftigen Bürger_innen zur Eigenverantwortung befähigen, bei gleichzeitiger Minderung der Abhängigkeit vom Staat. Dabei wird beispielsweise unter dem Schlagwort „vom Versorgungsstaat zum aktivierenden Sozialstaat“ die Thematik der Feststellungs- und Beweislastproblematik der Bedürftigen diskutiert, wodurch das Vertrauen und Sicherheitsgefühl der deutschen Bevölkerung an den  Sozialstaat sinkt. Aus dieser Problematik entsteht nur einer der Gründe für die laufenden Grundsatzdiskussionen über die Rolle des Staates bei der sozialen Sicherung Deutschlands. In diesem Zuge liegt ein besonderer Augenmerk in der Diskussion der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, des demografischen Wandels und der damit in Verbindung gebrachten Verschuldung der öffentlichen Haushalte. Mit dem Hintergrund der Globalisierung wird seitens der Politik die Finanzierung der horrenden Sozialausgaben gesetzlicher Sozialversicherungen beklagt, wodurch ein Wettbewerbsnachteil auf dem internationalen Arbeitsmarkt entstehe und damit eine Umstellung der lohnunabhängigen Sicherungssysteme voran getrieben wird (vgl. Olk, 2008, S. 887). Darüber hinaus wurden an zahlreichen Stellen Kürzungen im sozialen Sektor vorgenommen, die ausschließlich durch private Vorsorgemaßnahmen von Bürger_innen ausgeglichen werden können. Trotz dieser Problematiken ist jedoch auch eine Ausdehnung auf anderen Ebenen der staatlichen Verantwortung zu protokollieren, wie beispielsweise die Erweiterung des Sozialversicherungskreises auf Arbeitslosengeld-II-Empfänger_innen, den Ausbau der Kindertagesbetreuung und der Einführung von Elterngeld, um nur einige zu nennen.

Die Zukunft des Sozialstaates hängt maßgeblich von der Gestaltung und dem Umgang der jeweils regierenden politisch-ideologischen Ausrichtung ab, inwiefern auf die inneren und äußeren Stressfaktoren sozialstaatlicher Entwicklung reagiert wird.

Quellen

Butterwegge, C. (1999). Wohlfahrtsstaat im Wandel (2. Auflage). Opladen: Leske und Budrich.

Butterwegge, C. (2006). Krise und Zukunft des Sozialstaates (3. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Engel, H. (2011). Sozialpolitische Grundlagen der Sozialen Arbeit. Stuttgart: W. Kohlhammer.

Kreft, D. & Mielenz, I. (Hrsg.). (2008). Wörterbuch Soziale Arbeit: Aufgaben, Praxisfelder, Begriffe und Methoden der Sozialarbeit und Sozialpädagogik (6. Aufl.). Weinheim ; München: Juventa.

Pilz, F. (2004). Der Sozialstaat: Ausbau, Kontroversen, Umbau. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Sabrow, M. (2007). Die Krise des Sozialstaats. Leipzig: AVA, Akademische Verlagsanstalt.

Olk, T. (2008). Sozialstaat. In D. Kreft & I. Mielenz (Hrsg), S. 872-880

Verena Bieler
(Seminar „Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungslosigkeit“, WiSe 10/11)

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